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Morbus Sudeck: Diagnose ohne Apparate möglich

Unklare und inadäquate Schmerzen nach einer Operation oder einem Trauma sollten immer auch an einen Morbus Sudeck (CRPS) denken lassen. Kernaussagen der neuen Leilinie von 2018.
Paul Sudeck war der Erstbeschreiber der „entgleisten Heilentzündung“, die heute international als „complex regional pain syndrom“ (CRPS) bezeichnet wird. Ein CRPS entwickelt sich nach Verletzungen von Extremitäten bei 2–5 % der Patienten, am häufigsten bei distaler Radiusfraktur („loco typico“). Ein spontan auftretendes CRPS ist sehr selten, aber auch Bagatelltraumata können dieses Syndrom auslösen.
Das CRPS wird unterteilt in CRPS I (ohne Läsion eines größeren Nerven) und CRPS II (mit Nervenläsion). Mittlerweile wird eine Einteilung in ein „primär warmes“ und ein „primär kaltes“ CRPS bevorzugt. Diese Kategorien sind deswegen interessant, da sie unterschiedliche therapeutische Optionen nach sich ziehen und eine unterschiedliche Prognose haben.
Symptome zeigen sich frühzeitig
Ein primär warmes CRPS zeigt die typischen Entzündungszeichen (dolor, tumor, rubor, calor), ein primär kaltes beinhaltet eine blasse Hautfarbe und eine kältere Temperatur. Das CRPS II und das primär kalte CRPS weisen oft eine schlechtere Prognose auf (1). Die modifizierten Budapest-Kriterien (siehe Kasten) sind diagnostisch maßgebend. Wegweisend sind in jedem Fall Sensibilitätsstörungen, die sich nicht an Nervenversorgungsgebiete halten („handschuhförmig“), motorische und vegetative Störungen sowie Körperschemastörungen.
Häufig kommt es frühzeitig nach Trauma oder Operation zu inadäquaten Schmerzen bei Belastung und in Ruhe. Vor allem distal der Fraktur weisen die Gelenke eine Druckhyperalgesie auf, die Haut eine mechanische und thermische Hyperalgesie. Häufig besteht schon früh im Krankheitsverlauf eine ausgeprägte Allodynie, die ebenfalls nicht den typischen Nervenversorgungsgebieten entspricht.
Neben einer Einschränkung der aktiven und passiven Beweglichkeit dominieren gelegentlich vielfältige neurologische Symptome – wie Störungen der Diadochokinese, schmerzbedingte Kraftminderung, Tremor, Myoklonien und Dystonien.
Vegetative Zeichen sind Änderungen von Hauttemperatur und Hautfarbe, Ödeme, Veränderungen des Haar- und Nagelwachstums sowie Hyper- oder auch Hypohidrose. Diese Symptome ändern sich individuell im Verlauf stark. Unbehandelt kommt es durch trophische Veränderungen rasch zu Bewegungseinschränkungen und Kontrakturen.
Es sollte immer eine psychologische Evaluation hinsichtlich posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und generalisierter Angststörung (GAD) durchgeführt werden. Letztere haben einen negativen prädiktiven Wert für den Verlauf (2).
Frühe multimodale Therapie
Der Erfolg der Behandlung des CRPS hängt davon ab, dass möglichst frühzeitig eine multidisziplinäre (multimodale) Therapie von Schmerzen, Funktionsverlust und eventueller psychischer Begleitstörung bereitgestellt wird.
Im Zentrum der analgetischen Therapie stehen Medikamente, die die zugrunde liegende Neuropathie positiv beeinflussen (siehe Tabelle). Dabei werden trotz geringer Evidenz die Kalziummodulatoren Gabapentin und Pregabalin verabreicht. Ketamin-Infusionen über mehrere Tage reduzieren die Schmerzen und verbessern die Funktion über einen Zeitraum von mehreren Wochen.

Niedrig dosierte intravenöse Immunglobuline (0,5 g/kg) sind bei chronischem CRPS unwirksam und werden daher auch nicht empfohlen. Baclofen kann in spezialisierten Zentren intrathekal bei Dystonie angewendet werden.

Beim warmen CRPS in der Akutphase wird aufgrund der antiinflammatorischen und antiödematösen Wirkung mit Kortikoiden behandelt in einer Dosis von 1 mg/kg KG Prednisolon-Äquvalent. Calcitonin wird als unwirksam charakterisiert. Eine weitere Säule der medikamentösen Therapie sind Bisphosphonate, die in der Leitlinie in vergleichsweise hoher Dosis empfohlen werden. Wir geben jedoch aufgrund potenzieller Nebenwirkungen meist eine geringere Dosis.

Neu in den Empfehlungen findet sich N-Acetylcystein (NAC), das in einer Vergleichsstudie genauso wirksam war wie Dimethylsulfoxid-Salbe (DMSO) und so gut wie nebenwirkungsfrei ist.

Topisch kann Dimethylsulfoxid-Salbe (DMSO) aufgetragen werden, die in den Niederlanden zur antiinflammatorischen Standardtherapie beim CRPS gehört. Die Datenlage ist allerdings dünn.

Eine Ambroxol-Salbenmischung (Ambroxol 10 g, DMSO 5 g, Linola 50 g) wird in der Leitlinie nicht erwähnt, wirkt aber gut gegen die Allodynie (3). Ambroxol reduziert offenbar oxidativen Stress und ist ein Natriumkanalmodulator.

Es gibt einige Studien zu Naltrexon (4), die aber ebenfalls nicht in der Leitlinie erwähnt werden.

Eine Rückenmarkstimulation („spinal cord stimulation“, SCS) wird nur für therapierefraktäre Patienten empfohlen, sofern die Probestimulation effektiv war. Hier fehlen jedoch Langzeitdaten. Die elektrische Stimulation von Spinalganglien („dorsal root ganglion stimulation“, DRG) könnte künftig eine Alternative sein.

Funktionell wird vor allem ein abgestufter Übungsplan („graded exposure“) empfohlen, der ähnlich wie die „Angsthierachie“ zur Therapie von Phobien funktioniert, sowie die Spiegeltherapie nach Ramachandran. Beide Verfahren sind wirksamer als die Standardphysiotherapie.

Für regionalanästhetische Verfahren am Sympathikus (GLOA, Stellatum-Blockade) gibt es nach wie vor keine Evidenz der Wirksamkeit. Die oft angewandte „pain exposure physical therapy“ (PEPT) konnte in Studien die Funktion, aber nicht die Schmerzen bei CRPS verbessern und wird daher nicht mehr empfohlen.

Fazit für die Praxis

  • Diagnostik und Therapie des CRPS haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt.
  • Ärzte und Physiotherapeuten sollten mit den „modifizierten Budapest-Kriterien“ vertraut sein, die auf schwer zuzuordnende Störungen der Sensibilität, Motorik und Trophik abheben.
  • Die Diagnose ist meist ohne apparative Zusatzuntersuchungen zu stellen.
  • Für eine gute Prognose ist die rasch beginnende multidisziplinäre Behandlung essenziell. Hier sind die Spiegeltherapie nach Ramachandran und die „Graded-exposure“-Verfahren wichtige Bausteine.

Dtsch Arztebl 2019